Jiaming Tang – Cinema Love

Jiaming Tang

Cinema Love

Klett-Cotta ISBN 978-3-608-96607-7

gelesen von Angelika Herzog

Jiaming Tang ist ein queerer, aus China stammender Schriftsteller, der derzeit in Brooklyn, New York, lebt. Er besitzt einen Master of Fine Arts (MFA) der University of Alabama und war 2022–2023 Emerging Writer Fellow am renommierten Center for Fiction. Sein Debütroman Cinema Love wurde am 7. Mai 2024 bei Dutton Books veröffentlicht und erhielt breite Anerkennung. Das Werk wurde unter anderem mit dem Los Angeles Times‘ Art Seidenbaum Award for First Fiction, dem Edmund White Award for Debut Fiction und dem Ferro-Grumley Award for LGBTQ Fiction ausgezeichnet.

Zwischen Geistern und Schatten – Jiaming Tang: Cinema Love

Was geschieht mit einer Gesellschaft, die ihre Kinder zwingt, gegen sich selbst zu leben? Jiaming Tangs Roman Cinema Love ist ein stilles Erdbeben – ein literarisches Debüt, das sich in China um die Jahrtausendwende ebenso verankert wie in der chinesisch-amerikanischen Diaspora zur Zeit der Corona-Pandemie. Er erzählt von der Gewalt, die entsteht, wenn Menschen sich selbst verleugnen müssen – und von jenen, die ungewollt mit hineingezogen werden.

Im Zentrum steht die Geschichte schwuler Männer, die sich um das Jahr 2000 in eine doppelte Falle verstricken: die gesellschaftliche Erwartung der Ehe mit einer Frau – und die internalisierte Scham über ihre eigene Identität. Tang beschreibt eindringlich, was geschieht, wenn Homosexualität nicht nur tabuisiert, sondern als heilbar gilt – mit Umerziehungsmaßnahmen, familiärem Druck, körperlicher Gewalt.

Doch der eigentliche Fokus des Romans liegt – und das ist seine große Stärke – nicht nur auf dem Leiden dieser Männer, sondern auf dem noch stilleren, kaum sichtbaren Leid der Frauen, die sie heirateten. Frauen, die sich ein Leben aufbauten auf einem Versprechen, das nie eingelöst werden konnte. Cinema Love gibt ihnen Stimme und Raum – ohne moralische Anklage, aber mit einer tiefen Empathie für das emotionale Niemandsland, in das sie gestoßen wurden. Diese Frauen sind keine bloßen Opferfiguren; sie sind klug, zerrissen, stolz – und oft tragischerweise bereit, an der Lüge festzuhalten, weil es keine Alternative gibt.

Das Kino als Zuflucht – und Falle

Im Mittelpunkt steht Han Bao – eine Frau, die in einem verfallenden Kino arbeitet, das nur noch alte Kriegsfilme zeigt. Ein Ort des kulturellen Verfalls – und ein Schlupfwinkel für Männer, die in den Toiletten, in dunklen Winkeln, für wenige Minuten sie selbst sein dürfen. Kein Ort der Lust, sondern einer des Überlebens.

Han Bao ist stille Zeugin und zugleich Medium zwischen Leben und Tod, zwischen Wahrheit und Verdrängung. Der Geist ihres schwulen Bruders – dessen Schicksal nur angedeutet bleibt – liegt wie ein Schatten über ihr. Vielleicht ist es dieser Verlust, der sie sensibel macht für das Leiden anderer. Vielleicht auch nur die stille Solidarität mit jenen, die keine Sprache für sich haben.

Dem gegenüber steht Yan Hua – verheiratet mit einem schwulen Mann, den sie liebt, aber der sie nicht liebt. Als sie hinter das Geheimnis des Kinos kommt, empfindet sie keinen Trost, sondern Verrat. Aus Sehnsucht, Eifersucht oder einem letzten verzweifelten Versuch, wieder Bedeutung zu haben, zeigt sie das Kino bei den Behörden an. Dass die Polizei mit brutaler Gewalt vorgeht, weiß sie nicht. Am Ende ist ein Mann tot – und Han Bao verletzt. Yan Hua bleibt zurück mit einer Schuld, die nicht laut ist, aber bleibend.

Von China nach Chinatown: Das Exil als Echo

In der zweiten Hälfte verlagert sich der Roman nach Amerika – in eine chinesisch-amerikanische Community während der Corona-Pandemie. Auch hier herrschen Einsamkeit, Schweigen, Nachwirkungen. Die Chinatown der Gegenwart ist keine Utopie, sondern ein Ort der Risse, der nicht verheilter Wunden.

Han Bao und Yan Hua begegnen sich wieder – zwei Frauen, verbunden durch eine Geschichte, die sie nie gewählt haben. Zwischen ihnen entsteht etwas Eigenartiges: keine Freundschaft, keine Feindschaft – aber ein tastendes, sprödes Erkennen.

Ein Roman über Systeme, Schuld und Projektionen

Cinema Love ist kein Bericht über Repression, sondern ein Geisterroman im besten Sinn. Nichts vergeht, alles kehrt wieder – als Erinnerung, als Schuld, als unerfüllte Sehnsucht. Tangs Figuren sind keine plakativen Opfer oder Täter. Jeder handelt aus einer Mischung aus Angst, Hoffnung, Anpassung. Die große Tragik liegt im System, das alle formt – und deformiert.

Tang beschreibt Schuld nicht als moralische Kategorie, sondern als seelische Struktur. Yan Hua zerbricht nicht an ihrer Tat, sondern an ihrer Hoffnung, durch sie wieder Teil einer Wahrheit zu werden.

Seine Sprache ist klar, fast nüchtern, aber voller Zwischentöne. Viele Szenen wirken wie Filmsequenzen: Schnitte, Blickwechsel, eine Kamera, die innehält. Der Titel Cinema Love ist kein Wortspiel, sondern eine Diagnose: Die Liebe als Projektion, als Inszenierung, als nie aufgeführter Film. Doch in diesem künstlichen Raum kann Wahrheit aufblitzen – wenn man hinzusehen wagt.

Für ein Science-Fiction-Heft? Unbedingt.

Was hat dieser Roman in einem Heft über Zukunftsliteratur verloren? Alles. Denn Cinema Love erzählt von kultureller Programmierung, von sozialen Rollen, von einer Gesellschaft, die Identität kontrolliert wie ein kybernetisches System. Seine Figuren sind Gefangene einer Lebenslüge – aber auch ihrer tiefsten Menschlichkeit.

Wie in der besten Science-Fiction geht es um Selbstverleugnung, soziale Masken, innere Entfremdung. Wer die Geister dieser Welt sehen will, braucht kein Raumschiff – ein Blick hinter die Kulissen des Kinos genügt.

Fazit: Schmerzhaft schön und notwendig

Jiaming Tangs Cinema Love ist ein leises, bleibendes Buch. Es geht nicht um Happy Ends, sondern um das Überleben von Wahrheit – dort, wo keiner hinschaut.

Unbedingt lesenswert.