Bernardine Evaristo – Blondes Herz

Bernardine Evaristo

Blondes Herz

ISBN 978-3-608-50275-6

gelesen von Angelika Herzog

Bernardine Evaristo, geboren 1959 in London, ist eine vielfach ausgezeichnete britische Autorin und Professorin für Kreatives Schreiben. Sie wurde 2019 mit dem Booker Prize für ihren Roman Girl, Woman, Other ausgezeichnet, der in deutscher Übersetzung unter dem Titel Mädchen, Frau etc. bei Tropen / Klett-Cotta erschienen ist. Evaristos Werk erkundet Identität, Gender und Herkunft in der afrikanischen Diaspora, oft mit experimenteller Formensprache, die sie selbst als „Fusion Fiction“ bezeichnet. Bei Klett-Cotta sind u. a. auch die Romane Mr Loverman, Blondes Herz (Blonde Roots) und Zuleika (The Emperor’s Babe) erschienen.

In einer Welt, wo Afrika Kolonialmacht ist, wird Geschichte neu geschrieben – doch Evaristos Blondes Herz ist mehr Dystopie als Dialog

Alternative Geschichte gehört zum Fundament der Science-Fiction: Was wäre, wenn die Welt ganz anders verlaufen wäre? Was, wenn die Machtverhältnisse vertauscht wären, Kolonialisierung andersherum stattfand – und Europa der versklavte Kontinent wäre? Bernardine Evaristo greift genau diese Idee in ihrem Roman Blondes Herz (engl. Blonde Roots) auf: Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Afrika – hier Aphrika – ist Kolonialmacht. Weiße Menschen – hier Waize – werden versklavt, verschleppt, unterworfen. Sprache, Geografie, Geschichtsbilder werden gezielt verfremdet. Was als literarische Satire beginnt, wird zum düsteren Gedankenspiel. Und doch: Für mich war es eine kalte, fremde Lektüre.

Ich habe Evaristos erste beiden Romane auf Deutsch sehr geschätzt. Mädchen, Frau etc. war ein literarisches Wunderwerk – vielstimmig, berührend, klug gebaut. Mr Loverman lebte vom Humor, von der Wärme seiner Figuren. Blondes Herz dagegen ist etwas ganz anderes: literarisch radikal, aber emotional verschlossen. Und das macht die Lektüre nicht nur schwierig, sondern streckenweise regelrecht schmerzhaft – ohne befreiende Wirkung.

Ein Parallelweltroman mit Konzept – aber ohne Verbindung

Im Zentrum steht Doris – ein hellhäutiges Mädchen aus Europa, das von einem Sklavenhändlertrupp verschleppt wird und in die aphrikanische Welt der Unterdrückung gerät. Wir folgen ihrem Weg durch verschiedene Stationen der Gewalt, durch Flucht, Rückkehr, Demütigung, Überleben. Die Idee: durch Umkehrung kolonialer Realitäten ein neues Verständnis von Geschichte ermöglichen. Und das gelingt – stellenweise. Aber es bleibt ein Konzept, das sich nicht in Leben verwandelt.

Doris ist zwar eine starke Frau, aber keine zugängliche. Und schlimmer noch: Die Frauen um sie herum sind es auch nicht. Blondes Herz wird als feministischer Klassiker beworben – doch ich finde vor allem gegenseitige Abwertung, Misstrauen, Härte. Schon Doris kann ihre Schwestern nicht leiden, und auch die anderen Frauen – Mütter, Herrinnen, Helferinnen – sind durchweg unsympathisch, oft grausam, nie solidarisch. Erst Ye Méme am Ende bringt so etwas wie Zuneigung ins Spiel. Doch da ist vieles schon abgestorben.

Man kann das als mutiges Erzählen lesen. Man darf aber auch sagen: Für einen Roman, der ausgerechnet in seinem deutschen Klappentext mit „emotionaler Wucht“ und „humorvoller Gesellschaftskritik“ wirbt, fehlt hier genau das – Emotion und Humor. Was bleibt, ist blanke Brutalität. Drastische Schilderungen, sadistische Szenen, viel Hohn. Und wenig Raum zum Andocken.

Zwischen Aneignung und Zielpublikum

Blondes Herz ist ein Roman, der für ein englischsprachiges Publikum vielleicht eine dringend nötige Irritation darstellt. Die koloniale Schuldgeschichte Großbritanniens wird hier sichtbar gemacht, gespiegelt, umgekehrt. Das ist politisch kraftvoll. In der deutschen Übersetzung aber wirkt vieles wie durch eine Nebelwand: Spracheffekte verlieren ihren Biss, Ironie geht unter, und die Verfremdung wird zur Sperrigkeit. Das macht die Lektüre nicht nur anstrengend, sondern entfremdet. Es ist, als würde man einem fremden Streit beiwohnen, ohne zu wissen, worum es geht – und ohne dass jemand bereit wäre, es zu erklären.

Man könnte zynisch sagen: Diesen Roman zu übersetzen war ein Akt kultureller Aneignung. Vielleicht ist es eher ein Akt politischer Solidarität. Aber als Leseerlebnis bleibt es eine Herausforderung – vor allem für Leser*innen, die sich nicht mit dem spezifisch britischen Kontext der kolonialen Umkehr identifizieren können.

Und warum gehört das in ein SF-Heft?

Weil Blondes Herz ein lupenreiner Parallelweltroman ist. Er benutzt das klassische Was-wäre-wenn, um ein System sichtbar zu machen. Aber im Gegensatz zu vielen Science-Fiction-Werken, die sich in ihrem Weltenbau Zeit für Ambivalenz, Entwicklung und Menschlichkeit nehmen, lässt dieser Roman keinen Raum. Er ist Waffe, nicht Einladung. Seine Figuren schreien, aber sie sprechen nicht mit uns. Die Gewalt ist konkret, aber sie erzeugt keine Erkenntnis – nur Erschöpfung.

Das Genre ist hier Vehikel, nicht Spielwiese. Und das ist ein valider, literarisch interessanter Zugriff – aber auch ein schmerzhafter. Wer auf erzählerische Wärme hofft, wie sie Evaristos erste Romane auszeichneten, wird enttäuscht. Wer sich aber auf eine kompromisslose Dekonstruktion von Macht, Geschichte und Identität einlassen will, wird etwas finden. Nur vielleicht nichts, was man liebt.

Fazit: wichtig, aber fremd

Blondes Herz ist ein Roman mit großem Anspruch, aber wenig Empathie. Ein Buch, das gelesen werden will, aber nicht unbedingt verstanden. Für mich hat es nicht funktioniert – weder emotional noch literarisch. Aber vielleicht reicht es, dass es existiert: als Stachel, als Spiegel, als Warnung. Und als Beitrag zu jener literarischen Science-Fiction, die dort beginnt, wo es wirklich unbequem wird.