Wie ihr wisst, lese ich Bücher stapelweise, quer durch sämtliche Sparten. Angesichts einer Vielzahl von Autoren, Neuerscheinungen und Möglichkeiten streift dabei allerdings manches, was mich erfreuen könnte, mitnichten den Fokus. Und so dauerte es tatsächlich bis zum Tod oben genannter Dame (19.09.1947 – 24.05.2015), bis ich auf Tanith Lee Kaiine aufmerksam wurde.
Beim Verfassen ihres Nachrufes (zu finden im Juli-BWA und auf der Elektron-Website) fiel mir auf, dass sie sich bereits 1975 mit dekadenten, voll mechanisierten Wüstenstädten befasst hat – etliche Jahre, bevor sich in meiner Kreativseele die ersten, noch höchst verschwommenen Vorstellungen von Cendraka zu formen begannen. Folgerichtig bestellte ich mir von der langen Liste ihrer Bücher „Trinkt den Saphirwein“, Teil 2 zu „Beiß´ nicht in die Sonne“, welches bei amazon-Lesern nicht so gut „weg kam“.
Vermutlich hätte es mir trotzdem gefallen. Natürlich handelt es sich bei beiden um erbärmlich dünne, 80er-Jahre-SF… Heutzutage muss ein Autor viel tiefer schürfen, die Spannungsbögen weit ausladender gestalten, aber dies war nun mal „die gute alte Zeit“. 1000-Seiten-Schmöker waren noch nicht modern, Tolkiens Einfluss noch nicht über den Teich geschwappt.
Demnach kostete es lediglich einen Vormittag, mir „Trinkt den Saphirwein“ zu Gemüte zu führen. Ich muss sagen: zwischen Frühstück und Mittagsmahlzeit spendeten mir die 177 eng bedruckten Seiten eine Menge Spaß. Taniths namenlose Ich-Erzählerin (man kann sie „Uuma“ nennen, in den Städten eine allgemeine Anrede) weist sämtliche Facetten zwischen Komik und Tragik auf und so konnten wir ausgesprochen gut miteinander. Außerdem ist sie eine herrliche Anarchistin, die so schnell nicht aufgibt – das hat sie mit meiner Heldin Vera gemein. Mehr will ich über das nun einmal leider knapp geschürzte Werk nicht verraten, sondern, wie immer, zum Selbstlesen auffordern. Es lohnt sich!
Beinahe hätte ich die Vorgänger-Story auch noch gekauft, doch der Anhang „Erläuterung von Konventionen, Institutionen und Geräten“ machte dies überflüssig.
Tanith Lees drei Kuppelstädte (nur Ghu – die Gottheit des Fanzines – weiß, warum sie die VIER im Namen führen) befinden sich auf einer nach-apokalyptischen Erde. Nach Vorstellung der Autorin hat sie sich gänzlich eine Wüste verwandelt, hübsch dekoriert mit aktiven Vulkanen.
So etwas ist recht unwahrscheinlich, heute wissen wir, dass der Weg der Erde eher in Richtung Wasserwelt führt: mit und ohne unsere Beihilfe werden sich die Kontinentalplatten irgendwann selbst zertrümmern. Ähnlich wie in Ursula K. LeGuins „Erdsee“ findet der Mensch dort seinen Lebensraum auf einer Vielzahl von kleinen und kleinsten Inseln, für Feldwirtschaft und Industrien kaum geeignet.
Zurück zum Buch: in den 80ern träumte man noch von den großen, friedfertigen, Lotus-essenden Zivilisationen. Alle Welt rauchte, die angeblich „bewusstseinserweiternden“ Drogen waren immer noch ein großes Thema.
Heute wissen wir, wie zerbrechlich unsere Seelen und Gehirne wirklich sind. Und dass es die Paradiese mit freiem Sex, Musik und Essen niemals gegeben hat. Schlimmer noch: vermutlich wird es auch niemals dazu kommen.
Der Traum selbst war allerdings nicht neu; mir will scheinen, er wiederholt sich alle hundert Jahre (Mu, Atlantis, Utopia, Thule, Californien). Um ihn zu verwirklichen, müsste sich homo sapiens, meiner Meinung nach, dafür erst einmal von seinem Steinzeit-Ich trennen, worauf ich persönlich nicht mehr zu hoffen wage. Wenn ich mich umsehe, finde ich statt Weltgeist lauter Leute, die ihr Haustier als Kindersatz fett füttern. Daneben meckern sie über die Nachbarn, flennen über verhungernde Kinder schön weit weg, gänzlich unfähig, den Zusammenhang herzustellen.
In Taniths drei VIERs (Bee, Baa, Boo, nach der dort üblichen Großraum-Handtasche) geht es ausgesprochen üppig zu. Die absolute Unsterblichkeit wurde verwirklicht in einem Maße, dass Jugendliche Suizid zur Sportart erheben, nur um für ihre verwöhnten Seelchen außerhalb der Reihe einen anders aussehenden Körper zu erhalten. In bestimmten Intervallen erhält jeder Mensch ohnehin die Möglichkeit, zwischen männlich oder weiblich zu wechseln. Hierbei ist jedes Erscheinungsbild möglich. Körperliche Schönheit langweilt nur noch, weil sie längst alltäglich geworden ist. Tritt nach vielen Dekaden Lebenssattheit ein, kann man sein Gedächtnis löschen lassen und neu beginnen, als Kind, in einer Kristallwabe künstlich herangezüchtet.
Für all das sorgen Roboter und Androiden, der Menschheit durch ihre Programmierung streng verpflichtet. Doch zumindest letztere begleiten uns lange genug, ein paar Tricks erworben zu haben und die Spezies mittlerweile abgrundtief zu verachten. Als Energiequelle dienen ihnen offensichtlich die aufwallenden Gefühlsstürme der Jugendlichen. Diese erhalten unbegrenzt Drogen, damit sie ihre Emotionen in eigens eingerichteten „Bezahl-Zellen“ abliefern können. Offensichtlich kokettierte Tanith Lee hier schon mit dem Vampirismus, lach…
Im Gegensatz zu Vier-Bee handelt es sich bei der Maschinenstadt Cendraka um eine Schöpfung lange nach der Jahrtausendwende. 2008 konkretisiert, befindet sie sich keinesfalls auf der Erde. Sie ist ein Hilfsprojekt des Weltenparlamentes, vor einigen hundert Jahren ins Leben gerufen, um den ältesten Zweig der Galaktischen Menschheit vor dem Aussterben zu bewahren. Dabei besitzt der Planet Sarn durchaus humanoide Ureinwohner, welche allerdings technisch völlig zurückgeblieben sind. Deren landwirtschaftlich geprägte Kultur findet sich hinter einer Bergkette. Cendraka selbst, eher eine Kleinstadt, erhebt sich in einem ausgedehnten Wüstengebiet davor.
Prinzipiel handelt es sich bei den Cendrakern um die Vorfahren der übrigen humanoiden Spezies, auch mit uns durchaus verwandt. Bis kurz vor Ende des 1. Teils existieren von ihnen niemals mehr als 5.000 Individuen. Sie alle sind ewig jung und gut aussehend, allerdings keinesfalls unsterblich. Die Stadt selbst beendet ihre Dasein nach 200 Jahren, ein bis dahin unter Verschluss herangewachsener und in allen Notwendigkeiten geschulter Klon füllt die Lücke. Denn Faulenzen ist nicht, jeder Bürger besitzt fest umrissene Aufgaben zur Erhaltung der Stadt.
Leider wird diese Idylle schon zu Beginn der Elektron-Saga gestört, woraus sich Vieles ergibt, nicht zu zuletzt die Rückeroberung einer alten Kolonie namens Erde. Dabei verfügt Cendraka nicht über Waffen. Militärische Mittel können nicht eingesetzt werden. Dank allerhand menschlicher Eigenarten endet das Geschehen jedoch blutig genug, unersprießlich für sämtliche Beteiligten.