Das Multiversum, leicht gemacht oder vom Hype, durch die Zeit zu wandern
In letzter Zeit scheint dies ja sehr aktuell. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sich auf meinem Schreibtisch plötzlich die Bücher über Zeitreisen häufen. Im Gegensatz zu den Leuten (ja, du bist gemeint), die gegen so etwas allergisch sind, lese ich den Plot seit jeher recht gerne. Aber es ist schon verblüffend, wie verschieden sich die Autoren dem Thema nähern. Daher heute mal eine Dreier-Rezension.
DER LEUCHTTURM AN DER SCHWELLE DER ZEIT
The Kingdoms, 2021
Klett-Cotta, Stuttgart, Oktober 2022, 536 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3608986365
Verlagsinformation:
„1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war. Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.“ Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst.“
Dies ist tatsächlich bei allen drei Autoren der Fall. Ähnlich wie Axel Kruses Protagonisten, versucht Joe Tournier dabei, eine Realität zu finden, die für ihn erträglich ist. Als schwach empfinde ich allerdings Natasha Pulleys Idee eines natürlich vorkommenden Zeitloches und das, was später damit geschieht … Als könnten sich die Betroffenen tatsächlich auf so ein Vorgehen einigen. Sorry, das glaube ich eher nicht.
Davon abgesehen ist der Nachfolger des „Uhrmachers in der Filigree Street“ ein durchaus lesenswertes Buch. Ernst geht es darin zu, blutig und auch reichlich chaotisch – aber es hat seine Stärken. Man merkt, wie gründlich sich die Autorin über Nautik und napoleonischen Seeschlachten informierte.
ZEITTRIPS GEHEN ANDERS
Zeit-Zyklus 2
Atlantis-Verlag Stolberg, Mai 2022, 181 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3864028359
Ein flüssig zu lesendes und launig geschriebenes Buch – gänzlich ohne Tippfehler. Doch Buchtitel sind nicht die Stärke des Autors, wurde doch Teil 1 „Zeitreisen gehen anders“ benannt. Hart an der Grenze ist auch, wie oft die beiden Protagonisten solche Sätze zueinander sagen.
Zu ihrer Entschuldigung: beide haben keine Ahnung von den Regeln. Andy und Cat sind nach wie vor auf der Suche nach Antworten auf die Fragen nach der Herkunft der Amulette, die die Zeitreisen ermöglichen und warum die Zeitreisen häufig nicht so verlaufen, wie geplant. Über Azincourt im Oktober 1415 geht es nach Plymouth in das Jahr 1588, bis es in Burg Lüttelnau in Kettwig im Jahr 1648 zum Showdown kommt.
Die Verlagsinformation unterschlägt hierbei einen Ausflug in die Steinzeit, über den noch zu reden sein wird. Außerdem sind beide nicht die ursprünglichen Personen … Trotz Alienbegegnung geht es hier weniger chaotisch zu als bei Natasha Pulley. Wie bereits erwähnt, lese ich solches Zeug gerne und konnte Alex´ Spielzüge einigermaßen nachverfolgen.
Einen Riesenbock hat er allerdings doch geschossen: eine Frau als Stammmutter der Neandertal/Cro Magnon-Verschmelzung? Und wird trotzdem alt? No, sorry: es sei denn, die Gute hätte ein wahrhaft gebärfreudiges Becken. Neandertaler-Köpfe sind zu groß! Umgekehrt wird ein Schuh daraus: ein Cro-Magnon-Mann beglückt Neandertalerinnen, während die Horde auf der Jagd ist … Alex, ich schenke dir diese Idee!
Alex Kruse (14.07.1963) ist genau 1 Tag und neun Jahre jünger als ich. Seine Kurzgeschichte „Seitwärts in die Zeit“ wurde 2014 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet. Heutzutage arbeitet er als selbstständiger Steuerberater in Mülheim an der Ruhr. Außerdem liest er gerne die SF-Klassiker, was ich jedem empfehle.
Reihe 2:
DIE CHRONIKEN VON ST. MARY´S
Teil 1 – 7 (von mir gelesen Bd. 5 + 6)
Blanvalet Taschenbuch Verlag, verschiedene ISBN
Softcover
Autoreninfo amazon:
„Jodi Taylor war die Verwaltungschefin der Bibliotheken von North Yorkshire County und so für eine explosive Mischung aus Gebäuden, Fahrzeugen und Mitarbeitern verantwortlich. Dennoch fand sie die Zeit, ihren ersten Roman »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« zu schreiben und als E-Book selbst zu veröffentlichen. Nachdem das Buch über 60.000 Leser begeisterte, erkannte endlich ein britischer Verlag ihr Potenzial und machte Jodi Taylor ein Angebot, dass sie nicht ausschlagen konnte. Ihre Hobbys sind Zeichnen und Malerei, und es fällt ihr wirklich schwer zu sagen, in welchem von beiden sie schlechter ist.“
Seufz: in Selbstvermarktung ist sie jedenfalls gut. Mich würden ja schon 6000 Leser freuen, besonders, wenn sie mal etwas von sich hören ließen. Jedenfalls stieß ich auf diese Reihe in der Stadtbibliothek Recklinghausen (Außergewöhliche Vorlesestadt 2019), wo ich bereits Jahre meiner lang zurückliegenden Kindheit zubrachte. „Die Chroniken von St. Mary´s“, Teil 5 und 6, entpuppten sich als heitere Zeitreisebücher. Trotzdem sind sie gründlich durchdacht.
Verlagsinfo Teil 5:
„Madeleine »Max« Maxwell befürchtet, dass ihr Leben demnächst sehr trist und langweilig wird. Denn ihr wurde die ehrenvolle Aufgabe aufgezwungen, den Tag der offenen Tür von St. Mary’s zu organisieren. Das Event muss ein Erfolg werden – nicht dass ihr Chef Druck aufbauen würde …
Zum Glück kommt alles ganz anders, als fast die gesamte Crew der zeitreisenden Historiker im London des 17. Jahrhunderts verschwindet. Max bricht auf, um ihre Kollegen zurückzuholen. Das Fest vorzubreiten und die Welt zu retten, verschiebt sie eben auf später. Ist ja kein Problem für eine Zeitreisende – hoffentlich …“
Verlagsinfo Teil 6:
„Frisch verheiratet kehrt Max in den Dienst der zeitreisenden Historikerinnen und Historiker zurück. Ihr Jobprofil hat sich sogar ein wenig erweitert: Sie soll ab jetzt die neuen Rekruten ausbilden. Das wird Max selbstverständlich besser machen als ihre Vorgänger. Darum hat sie auch einen ausgeklügelten Trainingsplan, bei dem nichts schief gehen kann – außer es geht etwas schief! Und so treffen ihre Rekruten viel zu früh auf ein Baby-Mammut und auf sie Jagd machende Steinzeitmenschen, auf Johanna von Orléans und auf lästige Zeitpolizisten, die sich wie immer viel zu wichtig nehmen. Also eigentlich ist alles wie immer, wäre da nicht ein mieser, fieser, verkommener und vor allem unglaublich enttäuschender Verräter …“
St. Marys mit seinen verrückten Wissenschaftlern erinnerte mich sehr an Connie Willis erste Romane (Die Farben der Zeit, To say nothing of the Dog, z.B.) So führt die Reise durch Band 5 ebenfalls in eine brennende Kathedrale. Ich lasse dies als Huldigung durchgehen, fügt Jodi Taylor doch eigene Sprache und eigene Schurken hinzu. Man muss ihre Protagonisten einfach gern haben – und Connie kann manchmal deprimierend sein.
In dieser Reihe gibt es eine Zeitpolizei aus der Zukunft, die bei mir allerdings nur flüchtige Eindrücke hinterließ. Überhaupt sollte man Begegnungen vermeiden (insbesondere mit sich selbst). Die Zeitlinie ist brüchig; offensichtlich ist in Bd. 4 St. Marys durch einen solchen Fehler bereits einmal zerstört worden.
Besonders gut gefiel mir, dass niemand in die Zukunft reisen kann: denn diese ist noch nicht geschrieben.