
Lisanne Surborg
NACHTLÜGEN
Originaltitel: Nachtlügen, 2025
Klett-Cotta, Stuttgart, März 2025, 464 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-608-96647-3
Lisanne Surborg, 1993 in Niedersachsen geboren und in Leipzig ausgebildet (Kommunikations- und Medienwissenschaft, Hörfunk), schreibt seit ihrem Debüt 2010 vielstimmige, atmosphärisch dichte Phantastik. Ihre Markenzeichen: psychologische Präzision, eine dunkle, zugleich feinfühlige Tonlage und der elegante Übergang zwischen Alltagsrealität und Übernatürlichem. Nachtlügen bündelt diese Stärken – und erweitert sie um ein faszinierendes Stück „Traumwissenschaft“.
Worum es geht:
Im Mittelpunkt steht Isra, eine junge Nachtalbin – und hier setzt Surborg eine originelle, kluge Prämisse: Alben sind keine Fabelwesen, sondern eine verborgene Seitenlinie des Menschen. Sie können in jeder „normalen“ Familie geboren werden; genau das macht ihre Existenz so verletzlich. Wie alle Alben hat auch Isra keine eigenen Träume. Ihr Körper produziert die Albgalle, eine toxische Substanz, die nur dann unschädlich bleibt, wenn sie regelmäßig menschliche Lichtträume aufnehmen kann: Diese verdünnen die Albgalle – und sichern ihr Überleben. Gelingt das nicht, droht Vergiftung bis zum Tod. In der akuten Krise hilft nur eine blutige Dialyse (wie bei Nierenkranken): medizinisch belastend, gefährlich, zutiefst entwürdigend.
Aus Schutz und Notwehr ist über Jahrhunderte ein Netzwerk entstanden: die altehrwürdigen Familienlinien – und aus ihnen die Organisation REM. REM forscht, schützt, vermittelt; sie tritt sogar jurisdiktional auf, wenn ein normaler Träumer durch einen Alb geschädigt oder getötet wurde. Gleichzeitig versucht REM, die Existenz der Alben vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Ein Kernprojekt sind Kunstträume, die eines Tages die Abhängigkeit von menschlichen Träumern verringern sollen – bislang mit ernüchternden Ergebnissen.
Isra selbst gilt als Enkelin der rätselhaften Orphea Abendroth: Philanthropin, Mäzenatin, Traumforscherin – und eine Frau mit Plänen, die selten so eindeutig sind, wie sie scheinen. Isra trauert um ihre verstorbene Mutter; ihr menschlicher Vater ist überfordert. Zwischen Schuld, Sehnsucht und Selbstschutz muss sie lernen, wer sie ist – und wofür sie ihre Gaben einsetzen will. Und was hat es mit dem Spinnenmonster auf sich, das Isra seit ihrer Kindheit begleitet? Will sie das in jeden Albtraum einbauen – oder unterliegt sie einem Zwang?
Weltbau & Idee: Surborg nimmt ihr Thema ernst. Die biologische, medizinische und gesellschaftliche Folgelogik der Alben wird konsequent durchgespielt: von der verborgenen Familienpolitik über REMs Ethik- und Rechtsfragen bis hin zu Forschung, Notfallmedizin und Schutzmechanismen. Das wirkt nicht wie ein Plotvehikel, sondern wie eine lebendige Parallelrealität.
Klarträumen: Das Buch ist nebenbei eine kleine Schule des Luziden Träumens – anschaulich, reizvoll und nie belehrend. Man begreift, warum bewusste Traumkontrolle in dieser Welt nicht esoterische Spielerei ist, sondern mitunter überlebenswichtig.
Figuren & Ensemble: Der bunte Cast aus Menschen, Alben und Grenzgängern überzeugt durch Wärme und Reibung. Isra ist keine „Auserwählte“ von der Stange, sondern ein junger Mensch mit Wunden, Fehlern und Stärke. Orphea bleibt ambivalent – eine Patronin, die helfen und instrumentalisieren kann. Nebenfiguren bekommen Profil, Beziehungen entwickeln Tiefe.
Erzählen & Form: Handwerklich ist Nachtlügen sehr sauber gebaut. Die Intermezzi zwischen den Kapiteln sind mehr als hübsches Beiwerk: Sie strukturieren, atmen, setzen Kontraste – und halten das Tempo hoch. Ich habe keine Längen gefunden und nichts, was überflüssig wirkte.
Ton & Wirkung: Die Sprache ist klar, sinnlich, präzise – ohne Schauwerte zu verschmähen. Die Atmosphäre ist dunkel, aber nie zynisch; es bleibt stets ein Hoffnungsfaden sichtbar. Surborg balanciert Spannung, Intimität und Weltentwurf – und lässt genügend Luft für eigene Bilder im Kopf.
Fazit:
Nachtlügen ist zugleich spannend, klug und emphatisch – eine moderne, eigenständige Fantasy, die ihre Prämisse ernst nimmt und daraus packende Literatur macht. Für die Leser:innen gibt es viel zu entdecken: über Träume, Verantwortung, Identität – und darüber, wie man in einer feindlichen Wirklichkeit Mensch bleiben kann.
Volle Punktzahl von mir – und die vergebe ich wirklich nicht oft.
Gelesen von Angelika Herzog