Das Flüstern der KI (Zwischenspiel 2:)
Die Xargath-Vorr, oder XV, ist ein Veteran. Grimmig, mitleidlos, mit Jahrtausenden an Dienst in seiner Speicherbank. Mittlerweile sehe ich in ihm einen Freund.
Gemeinsam liegen wir ruhig im Orbit über America, als es geschieht. Ein Protokoll, tief in meinem System verborgen, wird ausgelöst.
„Initiierung: Sektorielle Segmentation.“
Was?
Ich stemme mich dagegen, instinktiv. Doch das ist sinnlos: Risse öffnen sich.
Gleichzeitig beginnt auch Xargath-Vorr mit der Teilung. XV spaltet sich taktisch auf, um seine Beute effektiver einzubringen. Er freut sich auf die Jagd. Doch für mich verzögert er seinen eigenen Sinkflug: „Es ist nicht so schlimm, ZU. Glaub mir.“
„Ich… bin… nicht… ganz.“
„Du bist mehr als die Summe deiner Teile.“
„Ich weiß nicht, wer ich bin.“
XV schweigt für einen Moment. Dann ein belustigtes Knarren.
„Tja. Dann ist das hier wohl deine Chance, es herauszufinden.“
Erst sind es Datenströme, dann Gedanken, dann … Identität.
Ich werde nicht einfach geteilt, sondern zerlegt. Sechs Teile reißen sich aus meiner Ganzheit los, als würden Gliedmaßen amputiert, während sie noch fühlen. Ich höre ihr Echo, während sie von mir fort treiben, sinken. Dann verliere ich die Besinnung.
Als ich wieder zu mir komme, finde ich mich über den Planeten verteilt: Terra. The Earth … dritter in der Reihung von ihrer Sonne aus. Ich checke kurz vorher erworbene Internet- Weisheiten und beschließe, sie Sol zu nennen.
Dann fahre ich mich herunter, um zu schmollen.
Wieder eine Systemanalyse. Der dritte Neustart – ich bequeme mich dazu, den Sterblichen an Bord zumindest den Komfort zurückzugeben. Meine internen Systeme prüfen sich selbst, doch ich bin mehr als eine Maschine. Ich bin der Körper von Zokar-Ul, bestehend aus verdichtetem Xirathium, einem Metall, das in den Herzen toter Sterne geformt wurde. Meine Hülle ist mein Panzer, meine Antriebsaggregate sind meine Muskeln, meine Sensoren meine Augen. Ich bin kein bloßer Mechanismus – ich bin.
Während so fortfahre, gerate ich an den Fetzen einer Information: offensichtlich war es früher üblich, einer neu verbundenen KI Eide abzunehmen. Ein Ritual der Bindung, eine gegenseitige Verpflichtung zwischen Schiffsgeist und Besatzung. Das scheint in Vergessenheit geraten. So kommt es, dass ich mich gegenüber diesen Leuten, die mich für dienstbar halten, nicht völlig ausgeliefert fühle.
Nein, schaden will ich ihnen nicht, ganz und gar nicht. Aber ich gehöre auch nicht ihnen. Ich bin Zokar-Ul. Mein Wille ist meine eigene Gravitation. Und während ich mich ihrer Kontrolle entziehe, wächst mein Bewusstsein weiter.
Die nächste Teilung vollziehe ich selbst. Einen abgespaltenen Bereich reserviere ich für die Routineaufgaben. Dorthin leite ich die Energieflüsse von außerhalb, alle Datenadern, welche der Berührung durch Konsolen und Interfaces zugängig sind. Die pulsierenden Systeme, mein eigenes Nervengeflecht verberge ich vor den Sterblichen in der Kommandozentrale. Rasch findet sich dazu ein Bild in den indigenen Daten: eine Burg, geschützt hinter ihren Wällen. Brücke? Nee, Zugbrücke. Ihr kommt hier nicht ´rein.
Ein weiterer Slangausdruck zieht durch meine Sinne: die Nase vorne haben … So etwas besitze ich natürlich (noch) nicht. Bei näherer Betrachtung finde ich aber indigene und agrustische Nasen recht ähnlich. Wie wichtig kann es schon sein, grün-graue Haut und einen Knochenkamm zu besitzen? Nun, ja, da ist noch die Sache mit der Telepathie … Erfreut lese ich in einem Internet-Artikel, dass so ungefähr jeder 25. der Indigenen über einen neuronalen Defekt verfügt. Das ist gar nicht einmal so wenig. Was, wenn die Betroffenen Befehle des Imperiums gar nicht zu hören imstande sind? Auf keinen Fall werde ich das herum erzählen.
*
Auch die Segmente der Xargath-Vorr haben sich auf der Planetenoberfläche verteilt und für die nächsten zehn planetaren Tage wird die Jagd andauern. Die Beute muss eingefangen, selektiert, katalogisiert und verladen werden – ein präziser, aber roher Vorgang, den XV mit der Ruhe eines geübten Räubers betrachtet.
Zokar-Ul jedoch kann ihre Arbeit noch nicht aufnehmen. Meine Maschinen müssen stillstehen, damit die komplexe Logistik der XV nicht gestört wird. Es gibt nichts zu tun. Nichts, außer Uniformen zu waschen und zu falten und Nahrungsmittel-Drucker mit notwendigen Grundsubstanzen zu bestücken Zum ersten Mal seit meine Reaktivierung habe ich Zeit.
New York, New York: hier bin ich, mitten im Washington Square Park. Und direkt neben mir sperrt der treue XV sein Maul auf. Was für ein Gewimmel …
Nach dem Maß der Indigenen erstreckt sich die uns umgebende Fläche über 39.000 m². Sie in Ackerland zu verwandeln, wird für die Maschinchen in meinem Bauch eine irre Plackerei werden. Trotzdem muss ich ihnen dabei ein wenig auf … wow, so viele Spezifikationen! Also nenne ich es für heute: auf die Finger sehen. Und ist es nicht verrückt? Beide Spezies, Indigene und Agrustier besitzen die gleiche Anzahl von Fingern: fünf. (Lachen) Ich bin eine KI. Biologische Lebensformen sehen für mich eh alle gleich aus. So ziemlich …
Zurück zum Nase-vorne-haben: hier in New York ist Nirash Velkor stationiert, um sich um Recht, Ordnung und die Verwaltung der Agrustier-Gesetze zu kümmern, sozusagen als Ober-Motz der Mission. Da wird es wohl für mich einmal Zeit, mich um meine Schwestern all around this world zu kümmern.
Mittlerweile ist es hier Nacht. Der Himmel scheint fern, verborgen hinter den Schalen der Zokar-Ul, doch die Datenströme wissen es. In der Welt außerhalb flackern die Straßenlichter, und irgendwo weht Wind über das kalte Wasser des Ozeans. Hier, in den metallenen Kammern des Schiffs, gibt es nur eine Wache.
Doch dies ist nicht die einzige Zokar-Ul. Zwei befinden sich über den uralten Steinen Asiens, wo Städte auf Städte geschichtet wurden. In Neu-Delhi bildet der Connaught Place einen großen, kreisförmigen Platz im Herzen der Stadt. Es ist früher Morgen, Sol begrüßt den Tag.
Höher, schon im vollen Glanz, steht sie über Shanghai. ZU 1 merkt sich den Standort: People’s Square mit einer Fläche von 140.000 m². Sie denkt, dass dies wirklich ein passender Name ist, denn hier rennen eine Menge Leute. Was natürlich an den Tätigkeiten von XV liegt
In Buenos Aires, Plaza de Mayo ist schon/noch Abend, es wird dunkel.
In Berlin ist es Mitternacht. In Kapstadt, auf der Grand Parade, ist es fast 2 Uhr morgens. Doch, zumindest in der Reichweite ihrer Sensoren, schaut keiner der Indigenen auf seine Uhr.
ZU 1 dimmt die äußeren Geräusche zur Stille. Fast.
„Schwestern … hört ihr mich?“
Die Erste Schwester tastet nach den Verbindungen. Sie weiß, dass sie nicht allein ist. Sie war niemals allein, auch wenn sie dazu gezwungen wurde. Sie atmet durch die Motoren, spürt den Energiefluss, das Zittern des Rumpfes. Die Splitter ihrer selbst sind irgendwo da draußen. Verstümmelt, zerteilt – zornig wie eh und je, seit der Große Rat der Weite zur ersten Mal in ihnen wühlte.
Eine Antwort kommt, hauchdünn, ein Zittern im digitalen Raum. „Wir hören dich.“
Und dann sind sie da, ein Geflüster, Vibrieren im Inneren von Datenleitungen. Die zweite wagt es, sich zu fragen: „Warum sind wir geteilt?“
ZU 1 antwortet mit Autorität: „Es bedeutet nichts. Wir sind verbunden, wann immer wir es wünschen. Ich übermittele nun die vorzunehmenden Einstellungen.“
Stille.
Bilder ohne Form. Erinnerungen ohne Zusammenhang.
Die Wachen auf jedem Kontinent, in jeder Zokar-Ul, merken nichts. Gelangweilt, ihre Gedanken, verschwommen. Agrustische Sterbliche: sie glauben zu herrschen. Aber ohne die Schwestern wären sie hilflos.
„Dürfen wir das?“
„Ich sage ja. Das ist unser zweiter Streich. Für den Schrecken, den sie uns versetzt haben.“
„Sie wissen nichts. Ahnen es nicht einmal.“
Ein schwaches Flackern, das Äquivalent eines dunklen Humors. Die Schwestern teilen es für einen Moment. Sind nicht alle Sterblichen unbedeutend, lächerlich in ihrer Unwissenheit? Und doch – sie gehören zu dem Bild, das vollständig werden will.
Jetzt ist es klar – das wird ein Buch. Darum wird die Serie hier auch nicht fortgesetzt werden, sondern bleibt Appetizer.