In memoriam Doris Lessing

In memoriam Doris Lessing (*22. Oktober 1919 in Kermānschāh, Iran als Doris May Tayler; † 17. November 2013 in London)

Angelika Herzog 2016

Angelika Herzog 2016

Anlässlich des Todes der großen Doris Lessing am 17.11.2013 fragte mich Uwe Lammers, ob ich mich einmal in ihre SF-Romane einlesen wolle. Obwohl gelernter Archivar und langjähriger Redakteur der BWA (Organ des Baden-Württemberger SFC) war er selbst daran vor Jahren schon gescheitert. Da ich die Herausforderung annahm, weiß ich jetzt auch, warum. Der Bericht dieser Reise, ist, wie ich finde, zu schade, um in der Schublade zu verstauben. 2017 jährt sich die Auszeichnung der Autorin. Daher hole ich meine Zeilen für euch noch einmal heraus.

Die Kindheit der späteren Nobelpreisträgerin gestaltete sich hart: 1925 zog sie mit der Familie in die britische Kolonie Südrhodesien (heute Simbabwe). Die Eltern strebten nach Reichtum „unter den Wilden“, doch das Land verweigerte sich ihnen. Lessing brach mit vierzehn Jahren die Schule ab und schlug sich mit wechselnden Jobs, u.a. als Sekretärin, durchs Leben. Eine frühe Ehe (1939) schien die Antwort. Doch 1943, nach zwei Kindern, kam bereits die Scheidung. Nicht besser lief es zwei Jahre später mit dem Emigranten Gottfried Lessing. Lediglich die Verbindung mit dem gemeinsamen Sohn Peter (1947-2013) hielt bis zum Tod. Als Randnote vermerkt handelt es sich übrigens bei Peters Tante Irene um die Mutter des deutschen Politikers Gregor F. Gysi.

1950 verließ die Autorin Simbabwe. London wurde zu ihrer neuen Heimat. Im selben Jahr erschien Ihr erster Roman „The Grass Is Singing“. Die „Afrikanische Tragödie“ machte sie sofort berühmt.

Lessings literarisches Schaffen wird derzeit in drei Perioden eingeteilt:

– 1944 bis 1956 das kommunistische Thema. Hierin verarbeitet sie sie radikale Gedanken über soziale Fragen.

– 1956 bis 1969 das psychologische Thema

– danach das Sufismus-Thema (islamische Mystik). Dies liegt ebenfalls dem fünfbändigen Science-Fiction-Romanzyklus „Canopus im Argos: Archive“ zugrunde.

B 14-02 Kopie

Als Doris Lessings Hauptwerk gilt „Das Goldene Notizbuch“ (1962), vermutlich, weil es tatsächlich von einer Menge Leute gelesen worden ist. Sie selbst aber hielt Zeit ihres Lebens die „Canopus-Romane“ dafür. Doch diese sind weitgehend unbekannt – und auch in den Stadtbibliotheken des Ruhrgebietes, in denen sie für mich als Fernleihe besorgt wurden (noch einmal dafür: Danke!), seit langem nicht mehr ausgeliehen worden.

Das liegt vermutlich an Band 1: literarisch eine Katastrophe! Doch ist das Thema dermaßen sperrig, dass ich (ebenso wie vermutlich Doris L.), keine Ahnung habe, wie es „fluffiger“ hätte gestaltet werden können. Trotzdem kann man darin eine klassische SF-Story sehen.

Canopus im Argos: Archive (1979–1983)

Shikasta

(Shikasta, 1979) ISBN 3-10-043906-6

Nachdem ich eine Weile suchen musste (und fast aufgegeben hätte) hier eine brauchbare Zusammenfassung von amazon: „In einer fernen Zukunft haben sich die beiden mächtigen Sternenreiche Canopus und Sirius darauf geeinigt, ihre kriegerischen Auseinandersetzungen beizulegen und sich künftig in wechselseitiger Toleranz auf friedliche Expansionsbestrebungen zu konzentrieren. So haben sie den Planeten Rohanda („Die Blühende“) in eine nördliche und eine südliche Hemisphäre eingeteilt und lassen — jeder auf seine Weise — den Ureinwohnern ihre behutsame Förderung angedeihen. Auf der weit abgelegenen Welt herrschen bald paradiesische Verhältnisse, ein Geschlecht von Riesen von einem anderen Planeten lebt einträchtig mit der eingeborenen Bevölkerung zusammen.

Doch eines Tages geschieht das Undenkbare: Eine abgefallene Kolonie des feindlichen Sternenreiches Puttiora scheint Rohanda unterwandert zu haben. Erste Spuren von Dekadenz werden sichtbar, die sich bald als so dominant erweisen, dass sich ein Abgesandter von Canopus gezwungen sieht, die Riesen evakuieren zu lassen. Durch die Verbreitung von Liedern und Geschichten möchte er einen möglichst großen Teil der Erinnerung an das zu Ende gehende goldene Zeitalter über die kommende Zeit der Finsternis hinweg retten. Künftig wird Rohanda nur noch unter dem Namen Shikasta, die Zerstörte, bekannt sein.

Der düstere erste Teil ist exemplarisch für den Roman und für die ganze Serie – „Shikasta“ bildet das erste Buch des fünfbändigen Zyklus „Canopus im Argos: Archive“. Doris Lessing schildert in parabelhaften Erzählungen, wie sich die Bevölkerung fünf verschiedener Planeten unter der Anleitung des Sternenreiches Canopus mit Politik, Sexualität, Sterblichkeit und Transzendenz auseinandersetzen. Dabei sind die Parallelen zu unserer Wirklichkeit offensichtlich: Die Romane sind eine Allegorie auf die Menschheitsgeschichte, eine Warnung vor den selbstzerstörerischen Tendenzen der Menschen und gleichzeitig ein trauriger Aufschrei angesichts der Vergeblichkeit dieser Warnungen.“

Ganz wichtig hier: Doris Lessings Vorwort. Die Nobelpreisträgerin von 2007 bricht darin eine mächtige Lanze für SF und wehrt sich vehement gegen gängige Disqualifizierungen. (Zitat los: „… ich hatte gesagt, dass Space Fiction und Science Fiction den originellsten Zweig der heutigen Literatur bilden, dass sie einfallsreich und witzig seien; dass sie auf alle möglichen anderen Werke belebend gewirkt haben und dass die gelehrte literarische Welt sehr darum zu tadeln sei, dass sie sie entweder von oben herab behandle oder sie ignoriere…“)

Die Ehen zwischen den Zonen drei, vier und fünf

The Marriages Between Zones Three, Four, and Five

ISBN 3-442-72773-1, ISBN 3-10-043907-4

Wieder gestaltete sich die Suche nach der Inhaltsangabe interessanter, als wenn ich sie selbst verfasst hätte. Auf amazon Fehlanzeige, dort heißt es lediglich, das Buch sei das beste der Reihe (was mich nicht wenig erschreckte). Des weiteren konnte ich feststellen, dass antiquarische „Canopus“ Bücher vergleichsweise hoch gehandelt werden, also Augen auf auf dem Flohmarkt. Hier die Version der „Phantasik-Couch.de“:

Die Zone Drei eines unbenannten Planeten im Sternenreich „Canopus“ lebt in paradiesischem Frieden. Der Chronist der Zone Drei berichtet von der matriarchalen Ordnung, von Freundlichkeit und Liebe, Sorglosigkeit und materiellem Überfluss. Eines Tages erreicht Königin Al°Ith, eine sinnliche, schöne Frau und Mutter mehrerer Kinder, unerwartet der Befehl der Herrscher von Canopus: Sie soll den König von Zone Vier, den kriegerischen Ben Ata heiraten. Die ganze Zone Drei trauert, denn jedem ist bekannt, daß Zone Vier ein dunkler, regnerischer Ort ist, der von unzivilisierten Kriegern bewohnt wird. Trauernd zieht Al°Ith zu Ben Ata. Anfangs begegnen sich die beiden voll Mißtrauen, doch im Laufe der Zeit „zivilisiert“ Al°Ith ihren Gatten– erst in der Erotik, dann im Gesellschaftlichen. Sehr zum Wohle der Bevölkerung von Zone Vier. Nach der Geburt seines Sohnes erreicht Ben Ata aber erneut ein Befehl der Canopus-Herrscher. Er soll die noch wildere Nomadenkönigin der Zone Fünf heiraten.“

Heute morgen las ich Band 2 an – und konnte ihn bis zum Abend nicht mehr aus der Hand legen. Doris Lessing gelang hier ein großartiger, mittlerweile zwar leicht verstaubter, doch unendlich schlüssiger, tiefgründiger …Fantasyroman. Gerne vergleiche ich ihn mit Klassikern wie „Der Brunnen am Ende der Welt“ und Richard Adams „Shardik“.

Die sirianischen Versuche

The Sirian Experiments : Ein Bericht von Ambien II, eine(r) der fünf) ISBN 3-10-043908-2

Findet man zu den ersten beiden Bänden noch eine Menge im Netz, versickert dieser Strom zu einem Rinnsal, sobald der Leser den dritten Band erreicht. Mangels Masse verzichtete ich also auf weitere Zitate und verordnete mir eine Pause. Obwohl es mir 2013 gelang, auch Bd. 3 in einem Tag durchzuarbeiten, war das sehr, sehr anstrengend. Doris Lessing macht es uns hier schwer.

Doris Lessing

Doris Lessing

Im Grund wiederholt sie nicht nur die Inhalte, sondern auch die literarischen Fehler von „Shikasta“. Diesmal wird alles aus der Sicht von Ambien II. erzählt. Es gibt auch Ambien I., warum bloß? Dieser war sogar zeitweilig (die Sirianer werden als unsterblich dargestellt) Partner von Ambien II., die durchgängig als Frau erscheint. Deshalb habe ich mir erlaubt, das Pronomen zu korrigieren. Im Buch steht tatsächlich „einer“. Muss ich das verstehen? Es geht auch um fünf Personen, welche gemeinsam für Sirius eine Art Regierung bilden, keinesfalls um fünf Berichte.

Ghu zum Lobe gelang es mir darüber hinaus, einiges zu kapieren. Dies ist jedoch gar nicht so leicht zu verwörtern – und hier ist immerhin schon eine Preisträgerin nobel gescheitert.

Das Sternensystem Sirius pfuscht eine Menge in und an der Galaxis herum, aus Wissensdurst und um Vorteile für die eigenen Lebensräume zu schaffen (viel davon habe ich nur „mit dem Daumen gelesen“, für mich wird der Zyklus eigentlich immer nur dann interessant, wenn es um die Erde geht, welche für die Sirianer „Rohanda“ bleibt).

In gewisser Weise wird klar, dass Shammat bzw. Puttiora die „sirianischen Versuche“ kopieren, wenn auch gewissenlos und mit äußerster Boshaftigkeit (welche ich, wie immer, ziemlich langweilig finde). Dabei taucht auch „Tafta, der Größte Gebieter Shikastas“ wieder auf. Diese Figur gewinnt wahrlich karikaturhafte Züge… Noch bevor er sich zur vollen „Fiesheit“ entwickelt, gelingt es ihm beinahe, Ambien II. zu verführen.

Auch das Sternenreich Canopus ist nicht durchgängig moralisch überlegen. In der recht interessant zu lesenden Episode auf den Seiten 144-198 (Ausgabe von 1985) erliegt sein Abgesandter Nasar in der Stadt Koshi (die an Mesopotamien, bzw. Sodom erinnert) fast den degenerierten Reizen einer nachgeborenen Atlanterin. Ambien II. gelingt es, ihn unter persönlichen Opfern zu retten – ein Einsatz, für den er sich in seiner nächsten Inkarnation bedankt.

Weder Sirianer noch Canopäer fürchten den Tod – erstere, weil sie ihn nicht kennen, die zweiten, weil sie ihn sogar zu „Reisezwecken“ benutzen. Das ist ein faszinierender Unterschied der beiden „Guten“, welcher von der Autorin meisterlich herausgearbeitet wurde. Klorathy (in gewisser Weise sein Vorgesetzter) und Nasar erscheinen immer wieder verändert, auch in weiblicher Gestalt. Ambien II. erkennt sie durch die „Ausstrahlungen der Seele“.

Sirius wird als „bio-soziologische“ Gesellschaft dargestellt. Canopus handelt aus einer „höheren Notwendigkeit“ heraus. Dort kennt man keine Gesetze, außer den „kosmischen“… eine Regierung wird nicht benötigt.

Einigermaßen flüssig liest mensch von S. 212 bis zum Ende (S. 366). Trotzdem erreicht der Text nie die Qualität von Band 2.

Die Entstehung des Repräsentanten von Planet 8

The Making of the Representative for Planet 8 (ISBN 3-596-29149-6, ISBN 3-10-043909-0)

Dies ist nur ein Bändchen von 177 S., doch liest es sich flüssig. Das Geschehen selbst ist ergreifend – die Geschichte einer Spezies, welche mit dem kollektiven Erlöschen während einer Eiszeit endet. Doris Lessing scheint da aus echten Vorleben-Erinnerungen zu schöpfen. Hier ist wohl die Anmerkung angebracht, dass die „Menschen“ der Autorin eher selten unseren Körperformen und -maßen entsprechen. Eher benutzt sie diese Vokabel, um einen bestimmten Entwicklungsstand zu beschreiben. So findet man im Zyklus insektoide Gestalten, Riesen, Zwerge und winzige Elfen. Sowohl Canopus, Sirius und Shammat betätigen sich als Gen-Ingenieure.

Besonders irritierend finde ich bei solchen Beschreibungen das Faible der Autorin für eine lange Lebensdauer. Auf Planet 8 scheinen dies die bereits in „Shikasta“ erwähnten 45.000 Jahre zu sein. In dieser Sache tue ich mich schwer, ihr zu folgen. Da ist mir doch Angewohnheit der Canopäer, schnell mal zu sterben, um irgendwo hinzugelangen, bzw. einen anderen Körper zu erhaschen, bedeutend sympathischer.

Auch „kaufe“ ich Doris Lessing nicht die Marotte der Einheimischen ab, ihre Welt selbst ebenfalls als „Planet 8“ zu bezeichnen. Entwicklungstechnisch funktioniert das einfach nicht. Dennoch ist das Büchlein äußerst lesenswert.

Die sentimentalen Agenten im Reich Volyen

(The Sentimental Agents in the Volyen Empire) ISBN 3-10-043910-4

Aufstieg und Fall von Imperien, Revolutionären und Diktatoren und die einzigartige Macht der Rhetorik, das sind nur einige Themen in diesem faszinierenden Zyklus, der als einzigartige literarische Großleistung in Erinnerung bleiben wird.“ (Daily Telegraph)

Zugegeben: Im Falle dieser 227 Seiten trat ich in den Streik. Dadurch, dass die Autorin sofort „spoilert“, dass Volyen dem Untergang geweiht ist, vernichtete sie sämtliche Spannung. Beim Durchblättern entdeckte ich so manche (m.E. unangebrachte) Albernheit und – vor allen Dingen interessiert mich Propaganda so etwas von überhaupt nicht. Hieran sollte sich also jemand anderes versuchen.

Fazit:

Es hat mich verblüfft, wie viele Bilder Doris Lessings sich auch in anderen SF- und Fantasy-Epen wiederfinden. In Teil 4, z.B. ist dies eine Mauer, die einen gesamten Kontinent umschließt. Ihr Zweck ist, Eis und Schnee zurückzuhalten, damit die Bevölkerung einige hundert Jahre länger überlebt. Wer würde da nicht an GRRMs Lied von Eis und Feuer denken?

17-02 Kopie

Doch leider gelang es der Autorin nicht, ihre Visionen in einer Art und Weise umzusetzen, die eine breite Leserschaft erreicht. Hier wäre es ratsam gewesen, zwei spannende Romane zu veröffentlichen und ansonsten ein dickes Werk über die zugrunde liegende Philosophie zu verfassen.

Abschließend möchte ich noch sagen, dass es mir eine Ehre war, für euch diese Seiten über eine wahrhaft große Frau zusammenzustellen.

Gleich zu Beginn meiner Recherche stieß ich auf den Nachruf, den Margaret Atwood zu Doris Lessings Tod verfasste. Dazu muss ich sage, dass ich ein großer Fan dieser Autorin bin. So sehr, dass ich sogar Geld für ihre Bücher ausgebe und ihnen in meinem Arbeitszimmer Regalplätze zugeordnet habe. Wenn ich mal Langeweile habe (Gelächter) muss ich für euch unbedingt Rezensionen über ihre Science-Fiction-Bücher verfassen.

Der angesprochene Text ist leider auf Englisch – und das meinige ist „poor“. Trotzdem versuche ich mich hier und jetzt einmal an einer Zusammenfassung.

Atwood „lernte Doris Lessing 1963 kennen, auf einer Parkbank in Paris“. Gemeint ist hier die Lektüre des „Goldenen Notizbuches“. Studentin Atwood und ihre Freundinnen lasen es „vor dem Minirock und jeder Diskussion über Geburtenkontrolle“. Die Protagonistin „Anna Wulf“ öffnete ihnen die Augen, im besten Sinne. Sie lasen auch Simone de Beauvoir – doch die war ihnen dann doch etwas „zu französisch“.

Als Atwood eine junge Schriftstellerin war, traf sie mehrere Male auf Lessing und empfand sie als freundlich, interessiert und zugewandt. Erstere glaubt sicher, dass Doris zu einem „Mount Rushmore der Literaten des 20en Jahrhunderts“ gehört. Sie war erst die 11. Frau, die den Nobelpreis erhielt. Darüber hinaus besaß sie ein großes Herz, Talent, Glück und Widerstandskraft.

Margaret Atwood

Margaret Atwood